Einführung für Angehörige: Was ist BID eigentlich?
Wahrscheinlich lesen Sie diese Zeilen jetzt,
weil Sie gerade von einem Ihnen nahestehenden Menschen erfahren haben,
dass er oder sie „BID" hat. Das heißt, dass diese
Person eine tiefe Sehnsucht erlebt, in einem veränderten Körper
zu leben, beispielsweise durch eine Amputation von wichtigen Gliedmaßen, Querschnittslähmung oder Blindheit.
Sie sind nun schockiert, denn das Verlangen nach einer
Behinderung ist für den Nicht-Betroffenen absolut nicht nachvollziehbar.
Ganz im Gegenteil legt ja jeder von uns Wert darauf, einen gesunden,
intakten Körper zu besitzen.
Es ist schwer, wenn nicht unmöglich, so etwas
nachzuvollziehen. Seien Sie sicher, auch für die Betroffenen
ist ihr eigenes Verlangen ebenso schwer zu verstehen. Es gibt keine logische
Erklärung, woher das Verlangen eigentlich stammt, auch die Wissenschaft
hat bis jetzt nur wenige Erkenntnisse über die Ursachen gesammelt.
Nur ganz wenige Forscher befassen sich mit dem Phänomen, und
das auch erst seit einigen Jahren. Für die Betroffenen ist die
Sehnsucht nach einem behinderten Körper ebenso mysteriös,
und sie scheitern regelmäßig daran, es anderen Menschen
zu erklären, weil sie selbst keine Erklärung wissen.
Wichtig ist für Sie, dass BID keine Geisteskrankheit
ist. Die Betroffenen, die in etlichen wissenschaftlichen Studien untersucht
worden sind, waren bei den üblichen Tests und Befragungen unauffällig.
Man hat bis jetzt kein bestimmtes Muster, keine „BID-Persönlichkeit“
feststellen können. BID ist keine Form von „Wahnsinn“
oder Verrücktheit. Überwiegend sind Menschen betroffen,
die in völlig normalen Lebensumständen aufgewachsen sind,
einen Partner und Freunde haben, pünktlich zur Arbeit gehen und
regelmäßig ihre Steuern zahlen. Sie sind psychisch nicht
mehr und nicht minder auffällig wie der Rest der Bevölkerung.
Wenn man BID mit irgendetwas vergleichen kann,
dann am ehesten vielleicht mit Transsexualität. Auch da sehnen
sich Menschen intensiv, in einem anderen, veränderten, „richtigeren“
Körper zu leben. Und auch da können die meisten diese Sehnsucht
nicht vergessen oder beiseiteschieben. Wenn es eine geschlechtsanpassende
Operation gibt, sind die meisten Transsexuellen in ihrem veränderten
Körper glücklich: sie haben das Gefühl, endlich angekommen
zu sein. Vor der Operation, sagen viele, haben sie im „falschen
Körper“ gelebt. Als hätte ihr Körper sie bemogelt.
Das empfinden viele BID-Betroffene ähnlich. Möglicherweise
zeigt die Behandlung für Transsexuelle einen Weg auch für
BID-Betroffene?
Man weiß bisher nicht, wo BID herkommt.
Es gibt darüber einige Theorien. Am wahrscheinlichsten ist aus
heutiger Sicht, dass eine (vermutlich angeborene) Fehlfunktion im
Gehirn vorliegt. Hier gibt es ein Areal, das uns sagt, was zu unserem
Körper gehört und was nicht. So berechnet dieses Hirnteil,
dass Ihr Fuß Teil Ihres Körpers ist, der Schuh aber nicht.
BID verursacht hier offenbar eine Störung. Irgendwie wird ein
Glied, z.B. ein Bein, nicht als zum eigenen Körper gehörend
empfunden. Obwohl das Bein bewegt und gefühlt wird, hat der Betroffene
das Gefühl, dass es fremd ist, nicht zu ihm gehört. Es fühlt
sich quasi wie der Schuh an, mit dem Sie ja auch gehen können,
den Sie benutzen, aber nicht als Teil Ihres Körpers empfinden.
Untermauert wird diese Annahme, da BID schon in der Kindheit beginnt,
meist aber erst in der Jugend wirklich bewusst wird.
BID ist auch eine besonders starke, tiefe Sehnsucht.
Es gibt eigentlich keine Wörter, mit denen man es wirklich beschreiben
kann. Das Verlangen ist oft stärker als viele andere Gedanken und
Gefühle. Viele Betroffene denken alle paar Minuten daran, wie
sie das, was sie gerade tun, meistern könnten, wenn zum Beispiel das Bein
ab wäre. Man kann den Gedanken auch nicht wirklich entgehen,
denn jedes Mal, wenn man sein Bein sieht oder spürt, wird man
wieder daran erinnert, dass es eigentlich gar nicht da sein sollte.
Sogar bei einer Tätigkeit, die man genießt und bei der
man sich freut, kommen manchmal die Gedanken, wie viel schöner
es sein könnte, das jetzt zum Beispiel einbeinig oder einarmig zu tun. Für
Menschen mit BID ist es manchmal schwierig, sich zu konzentrieren,
da diese Grübeleien fast ständig da sind und unglaublich
viel Energie fordern. Für andere kann das wirken, als ob man
nicht richtig zuhört.
Schwer ist für viele Betroffene auch, dass
sie sich selber Vorwürfe machen. Jeder von ihnen weiß,
dass das Verlangen nach einer Amputation oder Lähmung völlig
abstrus ist und man nach der Operation dutzende Dinge, an denen man
Spaß hat, gar nicht mehr oder nur unter erschwerten Bedingungen
machen kann. Sie haben Schuldgefühle wegen dieser Gedanken, fühlen
Scham, und dazu kommt noch die Angst erwischt zu werden. Sie denken:
Wenn die anderen wüssten, dass ich so bin, würden sie mich
dann ablehnen? Oft versucht man jahrelang, immer wieder, die Gedanken
und die Sehnsucht zu unterdrücken. Und wenn sie dann doch wieder
kommen und man fast an nichts anderes mehr denken kann, fühlt
man sich schuldig und als Versager.
Die meisten BID-Betroffenen halten ihre Sehnsucht
geheim und müssen ein Doppelleben führen:
Innen drin, in der inneren Vorstellung, ist man „behindert“
(einarmig, einbeinig, gelähmt oder sonst etwas), nach außen
hin muss man „gesund“ wirken, als wenn nichts wäre.
Etwa so als wenn Sie unendlichen Liebeskummer haben, aber niemand
darf es Ihnen ansehen.
Manche haben geheimen Kontakt mit anderen BID-Betroffenen,
heute meist über das Internet. Viele leben ihre Sehnsucht ersatzweise
in Fantasien aus, suchen Rollenvorbilder und informieren sich genau
über alles, was mit der ersehnten Körperveränderung
(„Behinderung“) zusammenhängt. Einige versuchen auch,
zeitweise möglichst ähnlich zu leben, wie sie es gerne würden,
man nennt das „pretenden“. Sie benutzen beispielsweise
heimlich Krücken oder einen Rollstuhl, wenn sie sich zu Hause
unbeobachtet glauben oder wenn sie in fremden Städten sind, wo
sie niemanden kennen. Aber immer schwebt dann die Angst im Hintergrund,
doch ertappt zu werden.
Einige Betroffene verdrängen ihre Sehnsucht
und kämpfen gegen sich selbst; erfahrungsgemäß kommt
das Verlangen aber immer wieder. Das Verdrängen kostet unheimlich
viel Kraft, da man sich ständig ablenken muss und selbst dann
drängen sich immer wieder BID-Gedanken in das Denken.
„Wie kann man sich nur wünschen, behindert
zu sein?“ fragen Sie sich vielleicht. Menschen mit BID wünschen
sich aber gar nicht, „behindert“ zu sein. Die meisten
können ihre Tätigkeit auch mit einem amputierten Bein durchführen.
Die Paralympics, das Pendant der Olympischen Spiele für Behinderte,
zeigen, dass man auch mit amputierten Gliedmaßen zu unglaublichen
Leistungen fähig sein kann. Die Amputation wird hier nicht als
Einschränkung empfunden, sondern erst dadurch wird der Körper
„komplett“, erst dann entspricht der äußerlich
sichtbare Körper dem mentalen Körperbild. So widersinnig
das klingen mag, aber BID-Betroffene, die es geschafft haben, eine
Operation zu bekommen, fühlen sich nicht „verstümmelt“,
sondern endlich „ganz“.
Es gibt Menschen mit BID, die ihren Körper
ihrem innerem Selbstbild angepasst haben. In einer umfangreichen Studie
an über 20 Leuten mit angepasstem inneren Selbstbild wurde festgestellt,
dass sie nach der Operation zufriedener und leistungsfähiger
waren, da ihr Verlangen endlich erfüllt worden war und sie nicht länger
darüber grübeln mussten. Keiner von ihnen hatte danach noch
BID-Sehnsüchte nach weiteren Amputationen.
Wird aus dem Menschen, der Ihnen gesagt hat, dass
er unter BID leidet, dadurch ein anderer Mensch? Oder ist es nicht
doch dieselbe Person? Wenn Sie zeigen
könnten, dass Sie ihn auch mit BID, vielleicht sogar auch mit
einer „Behinderung“ akzeptieren, mögen oder vielleicht
sogar lieben könnten, dann wäre das ein sehr großes
Geschenk.
Was kann man als Angehöriger tun?
Der Mensch, wegen dem Sie sich hier informieren,
schämt sich wahrscheinlich sehr dafür, so „verrückt“
zu sein, sich so etwas „Unmoralisches“ zu wünschen.
Er hat sich Ihnen offenbart, da er nicht weiß, was er tun soll,
innerlich zerrissen und verzweifelt ist. Wahrscheinlich hat er niemanden,
mit dem er darüber reden kann, der ihm wirklich helfen kann.
Enttäuschen Sie diesen Menschen nicht mit einem vorschnellen
Urteil. Das „coming out“ hat diese Person entsetzlich
viele Nerven gekostet, es war nicht leicht zu berichten, dass man
unter so einem seltsamen Syndrom leidet. Dieser Mensch hat ihnen davon
erzählt, weil er Ihnen vertraut und Hoffnung in Sie setzt, dass
Sie sich bemühen, es zu verstehen.
Was braucht ein betroffener Mensch in dieser Lage?
Am meisten: dass Sie versuchen, ihn zu nehmen wie er ist, ohne zu
urteilen. Oft ist es besser, keine Ratschläge zu geben, sondern
eher Fragen zu stellen. Sprechen Sie offen darüber, das hilft
meistens. Hören Sie zu, ohne zu bewerten. Und versuchen Sie diese
Sehnsucht zu verstehen, auch wenn es schwierig ist. Sie helfen nicht
mit einer aber-aber-aber-Argumentation. Die ganzen Gegenargumente
sind dem Betroffenen seit Jahren selbst bewusst. Das „coming-out“
dient dazu, Hilfe und Verständnis zu finden, nicht Widerstand.
Jeder Versuch, die Sehnsucht auszureden und vom Gegenteil zu überzeugen,
nützt erfahrungsgemäß gar nichts.
BID ist für den Betroffenen Stress. Es nagt,
es zehrt Kräfte auf. Versuchen Sie, den Alltag mit Ihrem Partner
ohne Stress zu gestalten, so gut es geht. Versuchen Sie, auch Ihren
eigenen Stress zu vermindern. Lassen Sie Ihrer/m Partner/in oder Freund/in
Freiräume. Seien Sie einfach für ihn da. Sie müssen
nichts Besonderes machen. Oft bringt es für den Betroffenen erhebliche
Entlastung, mit jemandem offen über BID reden zu können.
Und wenn Sie über Ihren eigenen Schatten springen können,
dann unterstützen Sie ihn beim „pretenden“, dem Simulieren
der Behinderung. Das entlastet viele Betroffene.
Versuchen Sie bitte auch, es einmal so zu sehen:
Für den Betroffenen ist das, was Sie vielleicht als „Verstümmelung“
sehen, überhaupt keine Behinderung, sondern das Gegenteil. Jetzt
ist die oder der Betroffene seelisch behindert. Wäre die körperliche
Behinderung wirklich so viel schlimmer, wenn dieser Mensch dafür
seelisch ausgeglichen wäre, mit sich glücklicher?
Wenn Sie selber Rat suchen: Im Forum dieser Internetseiten
gibt es einen Bereich für Angehörige. Auch Sie können
mit Therapeuten und Wissenschaftlern Kontakt aufnehmen (siehe in den
Links). In den anderen Teilen der von www.bid-dach.org
können Sie weitere Informationen finden.
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